Was ist transpersonales (holotropes) Atmen?

Holotropes Atmen ist eine Methode aus der transpersonalen Psychologie, welche Psychologie und Spiritualität vereint. Holotrop heisst, sich Richtung Ganzheit hinbewegend. Die transpersonale Psychologie nutzt erweiterte Bewusstseinszustände, um über das Ego hinaus zu gehen und dadurch Einheit und Heilung zu erfahren. Solche Erfahrungen hatten lange in westlichen psychologischen Ansätzen keinen Platz, wobei Stanislav Grof (1985) und Ken Wilber (2007) schon früh unterschiedliche Modelle erarbeiteten, wo diese Erfahrungen auch ihren Platz bekommen haben.

Das holotrope Atmen wurde von Stanislav Grof entwickelt, welcher während vieler Jahre mit LSD gearbeitet hatte und dadurch zahlreiche Erkenntnisse aus veränderten Bewusstseinszuständen gewinnen konnte. Neben transpersonalen Erfahrungen ermöglichte dies auch tiefe Einblicke in Geburtsprozesse. Daraus entwickelte er die perinatalen Geburtsmatrizen, welche weiter unten beschrieben werden.

Nachdem die Arbeit mit LSD verboten wurde, suchte er nach Methoden, welche auch ohne Substanzen zu veränderten Bewusstseinszuständen führten. Schliesslich kombinierte er Atemtechniken (Hyperventilation) und schamanische Elemente wie z.B. Trommeln. Beim holotropen Atmen legt die Musik sozusagen den Teppich für den Prozess und unterstützt den Trancezustand.

 

Ziele des holotropen Atmens

Ziel ist einerseits durch die schnelle Atmung blockierte Energien wieder in Fluss zu bringen, welche in emotionalen und körperlichen Symptomen festgehalten werden. Dadurch können sie wieder in verständliche und sinnvolle Erfahrungen umgewandelt werden. Dies erleichtert den Zugang zu verdrängten Anteilen, welche sich durch schmerzliche Erfahrungen in der Vergangenheit gebildet haben. Der Trancezustand unterstützt dabei, präsent zu bleiben und dies beispielsweise in Bewegungen, Töne, Weinen, Lachen oder Schreien auszudrücken.

Andererseits ermöglicht der Trancezustand auch einen Zugang zum/r inneren Beobachter/in, zum höheren Selbst oder zur inneren Weisheit, was den Verarbeitungsprozess unterstützt.

 

Ablauf einer Atmensitzung

Ich biete in meiner Praxis Einzel- und Zweiersitzungen an, wobei eine Einzelsitzung 2 Stunden und eine Zweiersitzung 3 Stunden dauert. Es werden aber auch Gruppen angeboten. Beides hat seine Vorteile. In der Gruppe ist das Energieniveau um einiges höher, was dabei unterstützen kann, schneller in den Prozess reinzukommen. Anderseits bieten Einzel- und Zweiersitzungen die Möglichkeit, die Prozesse als Therapeut/in enger zu begleiten und mehr Inputs zu geben.

Nach einem Erstgespräch mit Abklärung von Kontraindikationen für Hyperventilation (wie beispielsweise Herzrhythmusstörungen oder hoher Augeninnendruck) beginnt eine Sitzung, nach Ausarbeitung des Anliegens, im Liegen auf einer Matte mit einer Entspannungsübung, um im Körper anzukommen. Hilfreich ist hier, sich nochmals auf das Anliegen auszurichten, sich aber nicht darauf zu fixieren, sondern sich vom Prozess führen zu lassen. Mit dem Einsetzen der Musik wird durch Hyperventilation zum Rhythmus der Musik zuerst einmal Energie aufgebaut. Dies kann zu Beginn etwas anstrengend sein, bis der Körper seinen Rhythmus findet, wobei die Musik wertvolle Unterstützung bietet. Hier braucht es zu Beginn oft etwas Anleitung, damit man richtig atmet. Durch die Hyperventilation entsteht im Körper zuerst ein Überschuss an CO2, danach wird der Körper mit viel Sauerstoff geflutet. Da chronischer Stress die Atmung verflacht, wirkt bereits dieser Effekt sehr wohltuend (Marktl, 2007).

Treten während dem Atmen Blockaden auf, welche den Prozess stoppen, werden diese durch Körperarbeit gelöst, damit dieser wieder ins Fliessen kommt. Gerade bei Traumata wird die Energie blockiert, um den Schmerz in Grenzen zu halten (Levine, 1998; Porges, 2017).

Das heisst aber auch, dass man im Leben nicht die volle Energie zur Verfügung hat. Oft berichten Klienten/innen nach dem Atemprozess, dass sich der Körper viel leichter und energievoller anfühlt.

Nach einer Sitzung sollte der Körper entspannt oder zumindest deutlich entspannter als vorher sein, sonst sollten diese Blockaden noch gelöst werden. Anschliessend werden die Erfahrungen gemeinsam reflektiert und die Integration in den Alltag vorbereitet. Häufig wirken Atemsitzungen noch länger nach oder machen zusätzliche Themen bewusst, weshalb Nachgespräche zur weiteren Integration oft hilfreich sind.

 

Wirkungen des holotropen Atmens

Die Wirkung des holotropen Atmens ist breit gefächert und somit auch die Probleme, welche damit bearbeitet werden können.

  • Körperebene: z.B. bei Verspannungen und Blockaden, um die Energie zu befreien
  • Psychische Ebene: Aufarbeitung biografischer Erlebnisse (z.B. Traumatisierungen, Vernachlässigung, Verlust von nahen Bezugspersonen etc.)
  • Geburtsprozesse: Erkennen problematischer Lebensmuster und verschiedenster Ängste, sowie deren Verarbeitung
  • Spirituelle Entwicklung: z.B. Erfahrungen bedingungsloser Liebe, von Urvertrauen und Verbundenheit, Sinnsuche, Licht und Schatten, Dualität und Einheit

 

Geburt und perinatale Matrizen

Unsere Geburt ist uns normalerweise nicht bewusst zugänglich, trotzdem prägt sie in hohem Masse unsere Lebensmuster und ist mit Sicherheit eines der einschneidensten Erlebnisse in unserem Leben. Im Geburtskanal erlebt das Kind einen massiven Druck, wobei Kräfte bis zu 50kg von allen Seiten auf es einwirken. Durch LSD-Sitzungen und später durch das holotrope Atmen kamen viele Leute mit diesen Erfahrungen in Kontakt, welche sich oft symbolisch in Form mythischer und magischer Bilder spiegelten und sich mit Überlebenskampf, Tod und Wiedergeburt auseinandersetzten. Die Symbolik der Tod- und Wiedergeburts-Erfahrung findet sich fast in jeder Kultur in ihrer entsprechenden Form wieder (Campell 1999). Auch die Erfahrungen im Bauch der Mutter bis zur Geburt waren oft ein Thema. Daraus entwickelte Grof (1985) mit der Zeit vier perinatale Geburtsmatrizen, welche das Erleben aus der Perspektive des Kindes beschreibt. In jeder Phase können Probleme auftauchen, welche zu spezifischen Lebensmustern führen.

Aus der Sicht der Mutter kann dies oft ganz anders aussehen. Ich habe auch Klientinnen, welche die Geburt der eigenen Kinder aufarbeiten. Dies erleichtert ihnen dann oft das Einfühlen in das Erleben des Kindes.

 

Perinatale Matrix I: Basis dieser Erfahrung ist die symbiotische Einheit des Fötus mit dem mütterlichen Organismus in den Monaten vor der Geburt. Menschen, die in dieser Phase stecken geblieben sind, können zu Drogen- und Alkoholmissbrauch neigen, in der Sehnsucht nach den schönen Gefühlen dieser Zeit. Verläuft sie problematisch, beispielsweise weil die Mutter versucht, das Kind abzutreiben oder es ablehnt, kann dies zu tiefgreifenden, diffusen Existenzängsten und Kontaktlosigkeit führen.

 

Perinatale Matrix II: Die zweite Matrix ist der Beginn der biologischen Geburt. Die intrauterine Existenz wird als erstes durch chemische Signale gestört und dann durch die Wehen. Der Muttermund ist jedoch noch geschlossen, es gibt noch keinen Ausweg. Dadurch können beim Kind überwältigende Gefühle ansteigender Angst entstehen, vor allem wenn es in dieser Phase zu Schwierigkeiten kommt. Eine problematische 2. Matrix führt neben Panik oft zu Lebensmustern, welche sich in Gefühlen von Endlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit, Depression, Einsamkeit und Verzweiflung spiegeln. Archetypisch ist diese Phase mit Sisyphus verbunden, mit sinnentleerten Situationen ohne Ausweg oder Aussicht auf Veränderung.

 

Perinatale Matrix III: Hier beginnt das zweite Stadium der biologischen Geburt, welches im Gegensatz zur zweiten Matrix durch eine Zusammenarbeit zwischen Mutter und Kind geprägt ist. Die Wehen gehen zwar weiter aber nun ist der Muttermund geöffnet und das Kind kann in den Geburtskanal eintreten, es geht vorwärts. In dieser Phase kommt es oft zum Wiedererleben eines Tod- und Wiedergeburtskampfes. Die Situation ist aber nicht mehr ausweglos wie in der zweiten Matrix, sondern das Kind erlebt sich als aktiv im Kampf ums Überleben. Es fühlt sich gleichzeitig als Opfer und Täter/in als Antwort auf die wahrgenommene Aggression durch die Wehen und seine biologische Wut, verursacht durch Ersticken, Schmerz und Angst (oft wenn die Nabelschnur um den Hals gewickelt ist). Insbesondere am Schluss kommt es hier in engen Kontakt mit Blut, Schleim, Urin und Fäkalien. Hier finden sich gegensätzliche Extreme von Todeskampf und vulkanischer Ekstase, was häufig durch eine sexuelle Komponente geprägt ist. Beobachtungen belegen, dass Erstickung und unmenschliches Leiden eine intensive Form sexueller Erregung hervorrufen können. Sexualität wird dann verbunden mit Tod, Gefahr, Aggression, biologischem Material wie Fäkalien und verzerrten spirituellen Tendenzen. Menschen, die in dieser Phase stecken geblieben sind, können deshalb eine Vielzahl von sexuell abweichendem Verhalten oder Phantasien mit sadomasochistischen Tendenzen aufweisen.

 

Perinatale Matrix IV: Hier findet die eigentliche Geburt statt, welche gekennzeichnet ist durch plötzliche Erleichterung und Entspannung. Auf symbolischer Ebene bedeutet es das Ende der Tod- und Wiedergeburtserfahrung. Der Übergang von der dritten in die vierte Phase involviert das Gefühl der Vernichtung. Alles ist nun anders. Das Kind muss selber atmen, essen, verdauen, es ist nicht mehr dunkel. Auf spiritueller Ebene verkörpert diese Erfahrung den Egotod. Alle vorangehenden Referenzpunkte werden ausgelöscht. Auf archetypischer Ebene entspricht dies dem Phönix. Die alte Form wird in Schutt und Asche gelegt und eine neue entsteht. Auf die totale Vernichtung folgt dann häufig ein Licht in übernatürlicher Schönheit oder es zeigt sich die aufblühende Natur nach einem Sturm. Falls ein Teil beim Übergang von der dritten in die vierte Matrix stecken bleibt, kann dies dazu führen, dass man sich physisch und emotional extrem unter Druck fühlt, der nicht gelöst werden kann. Menschen, welche sich in diesem Zustand befinden, bezeichnen sich selbst als Zeitbombe, die jederzeit explodieren kann und sie neigen zu manisch-depressiven Tendenzen.

Zu dieser Phase gehört auch die meistens zu frühe Durchtrennung der Nabelschnur, welche dramatische physische Veränderungen zur Folge hat und Schmerzen verursacht, welche zu Todesangst und Erstickungsgefühlen führen kann, da das Kind ja erst beginnt, mit seinen Lungen zu atmen und die Blutzufuhr, resp. der Sauerstoff, dadurch abrupt gestoppt wird (Lüssi, 2021).

Ich hatte Klienten/innen, bei welchen beispielsweise die Nabelschnur um den Hals gewickelt war, die mit Zange, Saugglocke oder einem Kaiserschnitt geholt wurden, oder deren Mutter plötzlich keine Kraft mehr zum Pressen hatte. Alle entwickelten problematische Muster, welche ihr Leben prägten und die mit der Aufarbeitung der Geburt gelöst werden konnten.

 

Transpersonale Erlebnisse

Durch das Wiedererleben traumatischer Geburten, kommt man auch in Berührung mit dem Tod und der Frage nach dem Sinn der Existenz, dem Infragestellen von bisherigen Werten und Lebensmustern. Viele haben beim Atmen zuerst lichtvolle Erfahrungen, welche das Vertrauen und die Zuversicht stärken, bevor sich dann die schwierigen Gefühle und Empfindungen rund um die Geburt zeigen. Das Aufarbeiten unserer Traumata lässt uns in vielen Fällen unsere geistige Natur und tiefste Sehnsucht erkennen, das Sehnen nach Einheit und unserem unsterblichen göttlichen Wesen.

 

Literatur:

Campell, J. (1999). Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt am Main: Insel Verlag.
Grof, St. (1985). Beyond the brain. Albany NY: New York Press.
Grof St. & Grof Ch. (2008). Spirituelle Krisen. Darmstadt: Schirner Verlag.
Grof, St. (2006). Das Abenteuer der Selbstentdeckung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Grof, St. (2008). Impossible- wenn Unglaubliches passiert. München: Kösel.
Grof, St. (2009). Holotropic Research and Archetypal Astrology. Archai: The Journal of Archetypal Cosmology, 1 (1), 50-66.
Levine, P.A. (1998). Trauma-Heilung. Essen: Synthesis.
Wilber, K. (1977). The Spectrum of Consciousness. The theosophical Publ. House.
Wilber, K. (2007). Integral Spirituality. Boston & London: Integral books.
Wilber, K. (2008). Wege zum Selbst. München: Arkana